Gespräch mit Zdeněk Sýkora (Rozhovor se Zdeňkem Sýkorou), 1986

Dieses Gespräch hatte von Anfang an schriftliche Form und ist das Ergebnis mehrjähriger Gespräche (1982–1985) zwischen dem Kunsthistoriker und dem Künstler, wobei die Fragen und Antworten immer weiter präzisiert wurden. Der Dialog zwischen den beiden Freunden wurde 1986 durch einen tragischen Unfall und den Tod Vítek Čapeks abgebrochen.     

Motto: Mehrmals in meinem Leben hatte ich das Gefühl, mich in meiner Arbeit verirrt zu haben. In jede neue Situation wurde ich langsam von Kräften gezogen, gegen die ich mich nicht wehren konnte und wollte. Neue Resultate haben auf mich immer fremd gewirkt, obwohl sie spontan entstanden und keineswegs das Ergebnis einer Entscheidung oder einer Absicht waren. Erst nach einiger Zeit begann ich sie zu verstehen und mir wurde  bewusst, daß sie meinem Denken vorausgegangen waren.

Ihre künstlerischen Anfänge beziehen sich auf die Landschaft, auf das Studium der Natur?

Abgesehen von meinen surrealistischen Anfängen und der Beschäftigung mit dem Kubismus, die damals eher ein Ausdruck der Begeisterung als des Verständnisses waren, begann sich mein malerisches Wissen in der Landschaftsmalerei zu formen. Die Basis war und bleibt das angeborene Bedürfnis nach freiem Raum.     

Die Anfänge meiner Landschaftsmalerei waren von mehreren Faktoren geprägt. Von meinen Lehrern Bouda, Lidický und Salcman ließ ich mich leicht überzeugen, daß es notwendig war, mit dem Studium der Natur und nicht mit dem, was bereits erreicht war, zu beginnen. Das Studium der Natur war in der Schule kein akademisches Kopieren, sondern es galt als eine Methode der visuellen und haptischen Aneignung der Wirklichkeit in der Zeichnung, in der Malerei und im Modellieren. Diese Methode führte zu keiner bestimmten künstlerischen Position, doch erwies sie sich als eine hervorragende Schule des Sehens und Empfindens. Da mir diese Methode auch zum Ausgangspunkt meiner Ausdrucksmittel wurde, stand ich eigentlich in meinen Anfängen am Übergang von der barbizonischen zur impressionistischen Denkweise. In der Landschaftsmalerei durchlief ich dann all jene Stilrichtungen, die die europäische Malerei in den ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts geprägt haben.     

Es war die Linie vom Impressionismus über Cézanne zum Fauvismus und Kubismus. Für mich war Matisse ausschlaggebend, durch seine Kunst begriff ich das Wesen dieser Entwicklung. Es war eine Entwicklung der natürlichen und festen Logik, ein Wandel von Bedeutung und Ausdruck innerhalb der künstlerischen Sprache und ihrer Mittel. Darüber ist schon oft geschrieben worden. Es wurde wie immer hauptsächlich nach Zusammenhängen und Beziehungen gesucht; die Entwicklungsdynamik des Wesens der künstlerischen Sprache blieb dabei aber weitgehend unberührt.  

Könnten Sie uns diesen Wandel innerhalb der Malerei noch näherbringen? Könnten Sie ihn aufgrund Ihrer eigenen empirischen Erkenntnis interpretieren?

In die Sprache der Malerei überführt handelt es sich um einen Übergang von der farblich-lokalen und perspektivischen Darstellung zu einem flächenhaften autonomen Ausdruck, und zwar durch die allmähliche Reinigung der Farbe in Abhängigkeit von der Verallgemeinerung von Zeichnung und Form. Oder: von der räumlichen Illusion zur Flächentransformation. Oder, was das Licht betrifft: von der Darstellung der Lichtvaleurs zur Farbrekonstruktion des Lichtes und von hier aus zur Licht- und Materialqualität der Flächenfarbe.     

Diese Revolution gab den Ausdrucksmitteln ihre Elementarkraft zurück und ermöglichte ihnen, sie weiterzuentwickeln.

Es wäre interessant, wenn Sie diese Entwicklung innerhalb Ihrer Malerei darlegen würden. Wie haben sich in ihr die Ausdrucksmittel stufenweise verselbständigen können?

Um Ihnen den Beginn dieser Entwicklung zu illustrieren, möchte ich die Landschaften der 50er Jahre, die meist in gedämpften Lokalfarben gehalten sind (Vršovice, 1953), anführen. Dieses Lokalkolorit ging allmählich in die reinere Farbigkeit impressionistischer Natur über (Allee bei Lužerady, 1953). Der impressionistische „Fleck“ wurde immer größer, und die Bilder wurden immer farbiger und weniger räumlich (Blick in die Straße, 1956). Der Besuch der Matisse-Sammlung in der Eremitage in Leningrad war für mich von schicksalhafter Bedeutung; in seiner Folge entstanden dann die Gartenbilder. Damals war mir schon klar, was Farbe und Linie als konstruktive und ausdruckstragende Mittel bedeuten, ich erkannte auch die Gesetzmäßigkeit der Beziehung zwischen den einzelnen Farben. Durch Matisse begriff ich das Wesen des Cézanneschen Genius.     

In dem Maße, in dem ich mich um eine immer größere Genauigkeit der Farbrelationen gemühte, wuchsen auch die Farbschichten. Der Pinsel wurde durch den Spachtel ersetzt, da dieser eine reinere Übertragung der Farbe von der Palette auf die Leinwand ermöglichte. Der Übergang zum Erdkolorit war unter anderem auch durch den niedrigeren Preis des Farbpigments – der Farberde – bedingt. Das Auftragen von dicken Farbschichten entsprang also keiner Absicht, sondern erwies sich als eine Konsequenz der wiederholten Gestaltung und Präzisierung der Farbbeziehungen (Braune Komposition, 1960). Die in dieser Zeit gemalten Bilder entstanden immer noch vor der Landschaft, die einzelnen Bildelemente waren meist von runder Form wie Sträucher und Baumkronen. Der Lackierspachtel, den ich verwendete, regte mich dazu an, zunehmend eckige Formen zu malen, die nachher konsequenterweise in geometrische Formen mündeten. Hier begann auch die dicke Farbschicht zu verschwinden; später wurde die Leinwand nur noch von einer dünnen Schicht, ohne „persönliche Handschrift“, überzogen. Der Übergang von der organischen zur geometrischen Form hatte seinen Ursprung in meiner immer stärker werdenden Bemühung, die subjektive Verzerrung auszuschließen. Dem entsprachen auch die farbigen geometrischen Flächen, die zu einer objektiveren Darstellung innerhalb der bestehenden malerischen Ausdrucksmöglichkeiten führen sollten.

Eine Zäsur in Ihrem Werkprozeß stellt die Graue Struktur von 1962/3 dar. Wie fanden Sie zu dieser?  

Zu den strukturellen Arbeiten gelangte ich durch eine allmähliche „Objektivierung“ und durch die Reduktion der Ausdrucksmittel auf wenige geometrische Farbformen, die sich gleichwertig gegenüberstehen. Diese Zeichen – also die Elemente, welche ich in der Farbigkeit auf Weiß, Grau und Schwarz beschränkte, um jegliche Anklänge an die Natur auszuschließen -, forderten direkt zum Einordnen, Drehen und Gruppieren auf. Paul Klees Definition von Struktur als teilbarem, dividualem System bildete den Ausgangspunkt meiner nachfolgenden Arbeit. Aufgrund der zahlreichen Möglichkeiten, die Ausgangselemente zu kombinieren, gelangte ich an einen Punkt, an dem mir das intuitive Arbeiten mit den Elementen unlogisch erschien und der Computer sich geradezu aufdrängte.     

Das Resultat meiner mehrjährigen Zusammenarbeit mit dem Mathematiker Jaroslav Blažek war ein sehr durchdachtes System, welches von uns detailliert in der Revue Leonardo (Pergamon Press, Oxford – New York 1970, Vol. 3, S. 409-413) dargelegt wurde.

Welche Möglichkeiten sahen Sie in der Verwendung des Computers?

Zum Einsatz des Computers fand ich durch verschiedene Umstände, die in etwa folgenden Ablauf hatten: Den Weg zu den Strukturen habe ich bereits erläutert.     

Einen weiteren Faktor stellte die Zeit um 1960 dar, die bei uns von den vielfältigen Möglichkeiten, welche die Anwendung des Computers bot, geprägt war. Im Bereich der Kunst wurde und wird der Einsatz des Computers immer noch als Ketzerei betrachtet, als etwas, was für jenes „zarte Gebiet der Gefühle“ gefährlich ist.     

Eine Kunst, die die geistige Dimension der aktuellen, wissenschaftlichen Erkenntnis und Praxis nicht spürt und wahrzunehmen imstande ist, ist weder zeitgenössisch noch zukunftweisend. Die Möglichkeiten der neuen Medien und Erkenntnisse werden mich auch weiterhin in ihren Bann ziehen, falls sie den Ausdruck meines Lebensgefühls vertiefen oder erhellen können.

Kommen wir jetzt auf den Computer zurück, der Ihnen innerhalb Ihres Arbeitsprozesses als Hilfsmittel dient. Glauben Sie, daß er Sie durch seine Sprache beeinflußt hat?

Zu meiner Beziehung zum Computer ist einiges zu sagen. In der Phase, in der man sich für seine Verwendung entscheidet, muß das Material aus solchen Elementen zusammengestellt sein, die in seine Binärsprache überführt werden können. Dies gilt für alle Fachbereiche. Meine Graue Struktur enthielt, hauptsächlich durch ihren Raster bedingt, der dem Speichersystem des Computers ähnlich ist, bereits viele dieser Voraussetzungen. Diese Struktur war jedoch noch rein instinktiv konstruiert. Die Idee dieser Komposition war es, die Nachbarschaft von gleichen Elementen möglichst zu vermeiden. An die Verwendung des Computers habe ich damals überhaupt noch nicht gedacht.     

Später, als ich mit Dr. Jaroslav Blažek zu arbeiten begann, erkannte ich bald die Vorzüge der so erzeugten rationalen Logik, die meine malerischen Vorstellungen in nichts ärmer gemacht, sondern eher bereichert hat.     

Bereits die ersten Computerarbeiten zeigten, daß das konsequente Einhalten des vorgegebenen Systems viele malerische Konventionen aufhob, und zwar nicht nur, was die Komposition betraf – Konventionen, die es wahrscheinlich nicht zugelassen hätten, dasselbe Element zehnmal zu wiederholen.     

Der Computer kann also das Denken dadurch beeinflussen, daß er es logischer und genauer macht. 

Bei den Strukturbildern ging es um die Relation der einzelnen Elemente. Wie gestaltete sich dann das Verhältnis von der „inneren“ Komposition zum äußeren Bildformat?

Das Hauptziel bestand darin, die kombinatorischen Möglichkeiten, ausgehend von der Anordnung der Elemente in der ersten Reihe, maximal auszuschöpfen. /Anm. d. Hrsg.Genauer sollte es hier heißen: „anhand der aufgestellten Regeln“. Ohne diesen Zusatz gilt die Aussage nur für die ersten, intuitiv gestalteten Strukturen aus den Jahren 1962–1963./ Die Struktur konnte sich so auf der Basis der Ausgangselemente entfalten und sich außerhalb des Leinwandformats fortsetzen. Um die größtmögliche Menge von Beziehungen festzuhalten, waren Großformate notwendig. Dies konnte ich noch dadurch steigern, daß ich später das Raster in unterschiedlichen Winkeln schräg zur Leinwand gesetzt habe. Die unregelmäßigen Großformate waren darüber hinaus auch für die Architektur von Bedeutung, mit der ich mich zu jener Zeit verstärkt beschäftigte. Für die Innenarchitektur hatten sie ganz neue und unkonventionelle Gestaltungsmöglichkeiten zur Folge.

Hatten Sie bei den sogenannten Objekten ein räumliches Konzept im Sinn?

Ich habe versucht, flächenhafte kombinatorische Prinzipien anzuwenden, wobei ich nur ein einziges plastisches Element zu Hilfe nahm. Das waren also Elemente, deren Lage und Beziehungen zueinander man nach allen Seiten hin entwickeln konnte. Deshalb hatten sie auch einen runden oder quadratischen Querschnitt. Die Ergebnisse – insbesondere die Hohlkörper – erweckten dann den Eindruck eines räumlichen Konzepts, aber sie waren nicht so gedacht, obwohl sie eine solche Verwendung nahelegten.     

Den Raum empfinde und verstehe ich als Leere – sie ist in allem enthalten und alles in ihr. Die künstlerische Interpretation des Raumes durch die dreidimensionale Form betrachte ich als anachronistisch. Damit will ich natürlich Bildhauerei und Architektur, die ja mit drei Dimensionen arbeiten, nicht in Zweifel ziehen – ich meine es in einem anderen Sinne.

Sie haben die Verwendung der Strukturen in der Architektur erwähnt. Diese stellen sicher eine Komponente dar, in der das Thema der Kommunikation enthalten ist. Betrafen Ihre Überlegungen die Einbeziehung der Malerei bzw. Bildhauerei in die Architektur?

Die Möglichkeit der Integration von Malerei und Bildhauerei in die Architektur halte ich für den Beweis ihrer Aktualität. Es ist immer ein gutes Gefühl, wenn die Arbeit, die in der Abgeschiedenheit des Ateliers entstanden ist, in der alltäglichen sozialen Kommunikation zu funktionieren beginnt. Die Mosaiken an den Lüftungstürmen des Letná-Tunnels und die keramische Struktur in der Jindřišská-Straße in Prag erfüllen diese Funktion. 

Nach den Strukturen folgten die Makrostrukturen, an denen Sie die Umrißlinien – die Grenze zwischen den gleichwertigen weißen und schwarzen Farbflächen – zu interessieren begannen. Sie gelangten zu Linien, die keine ganzheitliche Fläche bilden, sondern in die Leere plaziert sind. Können Sie dieses Problem näher erläutern?

Die Makrostrukturen entstanden als Abschluß der programmierten Strukturen. Sie waren ein Ausdruck meiner Bemühungen, auf deren eindeutige kombinatorische Natur hinzuweisen. Es war eigentlich mehr ein Zufall, daß ich mir dadurch selbst der Ausdrucks- und Bedeutungskraft der Linien, die durch das Aufeinandertreffen der weißen und schwarzen Kreissegmente entstehen, bewußt wurde. Die Linie zog mich immer mehr in ihren Bann. Ich blieb weiterhin bei der rationalen Methode, die ich nach wie vor für die beste halte. Den Ausgangspunkt bildete der Quadratraster, der um Diagonalen ergänzt wurde. Die Senkrechten, die Waagerechten und die Diagonalen des Rasters dienten zur Bestimmung der Tangenten der späteren Linie. Die Linie erschien so als eine zufällige Folge von sich verbindenden Tangenten. Ergebnis dieser Methode waren Linien von relativ stereotypem Charakter, wobei der Raster insgesamt zu stark in den Vordergrund trat.     

Später fand ich eine neue Möglichkeit. Die Verbindungslinien von der Mitte des Zifferblatts einer Uhr zu den einzelnen Zahlen ergaben die Grundausrichtung der Tangenten. Jede nachfolgende Tangente fing am Ende der vorhergehenden an und konnte sich in zwölf verschiedene Richtungen orientieren. Dem Winkel, den die Tangenten bildeten, entsprach der jeweilige Bogen. Diese neuen Linien waren bereits ein natürlicher Ausdruck von Freiheit. Der Raster war nun verschwunden, ebenso wie die Linie sich von der Leinwand zu lösen begann. Deren weiße Farbe als adäquater Ort für den Zufall stellte jetzt die Leere dar.  

Ihr Werk stützt sich auf den Verstand. Es handelt sich um einen Schaffensprozeß, der im voraus den Rahmen seiner Möglichkeiten kennt. In der strikten Einhaltung der vorgegebenen Regel wird so ein Optimum an Ganzheitlichkeit erzielt.

Jeder Künstler kennt seine Möglichkeiten, ob sie sich nun auf den Verstand oder auf die Intuition stützen.     

Die Form ist unter anderem auch ein Produkt der eigenen Beschränkung. Sowohl das Erfüllen wie auch das Überschreiten dieser Beschränkung machen diesen kreativen Akt aus.  

Das strukturale Prinzip ist nicht neu, bereits in der Vergangenheit wurde es angewandt: Michelangelo, Bach, Cézanne sind einige Beispiele von vielen.     

Das strukturale Prinzip ist immer an die Individualität des Künstlers gebunden. Man kann die Beziehung zwischen dem rationalen Bereich und dem der Empfindung als eine durchaus natürliche Eigenschaft der menschlichen Psyche ansehen – ich kenne keine künstlerische Ausdrucksform, in welcher eine dieser beiden Komponenten fehlt. Es geht offenbar um ihre wechselseitige Beziehung und was daraus folgt. Wichtig ist wahrscheinlich die Frage, wann im jeweiligen Schaffensprozeß welche Komponente die bestimmende ist.

Es scheint, als unterliege auch der Zufall einer Gesetzmäßigkeit. Ein und dasselbe Phänomen kann sowohl als zufällig wie auch als determiniert bezeichnet werden. Wie kommt der Zufall in Ihrem Werk zum Ausdruck?

Es gibt unvorhersehbare und erklärbare Situationen und Erscheinungen, die wir gern als zufällig bezeichnen. Es erscheint paradox, daß gerade in den exakten Wissenschaften der Begriff des Zufalls an Bedeutung gewonnen hat. Der Zufall ist für so vieles verantwortlich. Wir sind gezwungen, ihm immer mehr Vertrauen zu schenken. Jede Zufälligkeit ist von Faktoren bedingt, die fähig sind, Verbindungen herzustellen. Es gibt also keinen Zufall „an sich“, es gibt nur sehr komplizierte, unvorhersehbare Wechselbeziehungen. Wahrscheinlich existiert eine „höhere Ordnung“, die wir nicht begreifen, um so stärker aber fühlen können. Ich glaube, daß die Beziehung zwischen Begreifen und Fühlen für das Freiheitsgefühl entscheidend ist.     

Für meine gegenwärtige Arbeit hat die Verwendung des Zufalls eine Schlüsselbedeutung. Seit 1960 bemühe ich mich um immer größere Objektivität. Damals entsprach mir das strenge Programmieren, in dem der Zufall nahezu völlig eliminiert war. Heute sehe ich eher im Zufall eine höhere Stufe der Objektivität.     

Ich betrachte ihn als eine Möglichkeit, in direkten Kontakt mit dem Universum zu treten. Dies mag auch meine Beschäftigung mit Zen und Tao erklären.     

Worin liegt also Wert und Sinn des Zufalls? In der Kunst dient er seit dem Beginn unseres Jahrhunderts als ein Reinigungsinstrument. Er bildete die Basis für Dadaismus und Surrealismus. Es gibt keinen Bereich in der Kunst, in den er nicht nachhaltig eingegriffen hätte. Der Begriff des Zufalls enthält weitaus mehr philosophische, semantische und mathematische Tücken als jeder andere. Er gewährt keine Sicherheit. Aber auch in seiner problematischsten Gestalt erweist er sich als eine schier unerschöpfliche Quelle der Freiheit.

Die Interpretationsmöglichkeiten Ihrer Arbeit lassen sich im Dialog mit anderen Fachdisziplinen noch erweitern. Was für eine Beziehung besteht zwischen Ihrem Werk und den anderen Wissenschaftsbereichen?

Wenn es solche Beziehungen gibt, dann vorwiegend im subjektiv-intuitiven Bereich und weniger im objektiv-rationalen.     

Als ich in meiner Malerei zu einfachen Grundelementen gefunden hatte, die exakt definiert und auf der Basis rationaler Prinzipien kombiniert waren, öffnete sich meine Kunst für den Dialog mit anderen Wissenschaftsbereichen. Es waren Fachleute der Genetik, Linguistik, Biologie, Physik und der Medizin, bei denen ich großes Verständnis fand – dies gilt sowohl für die Strukturen als auch für die Linien.     

Ein solcher Informationsaustausch bleibt freilich auf den Bereich der Analogiebildungen beschränkt. Eine ganz andere Frage ist aber die nach dem Einfluß der wissenschaftlichen Erkenntnis. Nichts von meiner Arbeit ist aufgrund einer wissenschaftlichen Theorie oder unter ihrem Einfluß entstanden, ich bleibe nach wie vor Maler. Ich gehe von einer Leinwand zur nächsten vor, alles fällt mir bei der Arbeit ein. Fakt ist aber, daß mich die Prozesse und Resultate der exakten Wissenschaften, z. B. die Denkvorgänge in der Kybernetik, der Informatik, der theoretischen Physik und der Astronomie, faszinieren.     

Ich möchte damit sagen, daß für mich der Ausflug in den wissenschaftlichen Diskurs die gleiche emotionale Kraft hat wie das sinnliche Erleben der Natur.  

Außer den Strukturen und den Linien malen Sie auch weiterhin in der Natur. Warum zieht Sie die Landschaftsmalerei immer noch an?

Die Landschaft im historischen Kontext war schon immer eine Kategorie, in der sich die Beziehung des Menschen zum Universum am unmittelbarsten ausdrücken konnte. Zuletzt im Impressionismus und im Postimpressionismus. Für mich stellt sich das Malen in der Natur als ein erfülltes Bedürfnis nach freiem Raum dar. Es ist eine Form der künstlerischen Kontemplation und eine Quelle der Kraft. Ich sehe deshalb keinen Grund, es aufzugeben. Als ich zu den programmierten Strukturen gelangte, wurde ich mir bewußt, daß sie ein übertragener Ausdruck dessen sind, was ich in meinen frühen impressionistischen Bildern angestrebt habe. Die Bilder, die ich in der Natur male, haben in jüngerer Zeit ihre eigene Struktur, aber sie gehen von einer gleichen Grundvoraussetzung aus. Ich möchte die Form zur größtmöglichen Harmonie und Einfachheit führen. So etwa tritt die Horizontlinie als Begrenzung zwischen der Masse der Erde und der des Himmels, des Raumes, in Erscheinung. Es ist ein ähnlicher Prozeß, wie er den Übergang von den Makrostrukturen zu den Linien markiert.     

In beiden Verfahren, im „rationalen“ wie auch im „intuitiven“, wurde die Linie, eigentlich ganz ungeplant, zum dominierenden Ausdruckszeichen. Beide Positionen verstehen sich, jeweils auf ihre Weise, als Visualisierung ein und desselben Wirklichkeitsgefühls.

Wie wirken die Linien auf Sie, wenn sie vollendet sind? Sehen Sie in Ihnen dann noch weitere Bedeutungen?

Wenn sie gemalt sind, trennen sie sich von mir. Ich sehe sie als eine neue unbekannte Landschaft, denke dabei an nichts, ich betrachte sie und denke nur mit den Augen. Ich suche keine weiteren Bedeutungen...

Manchmal empfinde ich sie als ein Echo meiner existentiellen Gefühle: der Unfaßbarkeit der Welt, der Unerklärlichkeit der menschlichen Existenz, der Unendlichkeit.

Keine Sicherheit!

Was bleib also übrig? Nichts anderes als die Lebensfreude!

Im Anschluß an das Gespräch mit Zdeněk Sýkora kam mir ein Zitat des von ihm verehrten Henri Matisse in den Sinn, welches eigentlich als übergreifendes Motto über seinem gesamten Werk stehen könnte:

„Wir werden mit dem Sinn, die Kultur unserer Epoche wahrzunehmen, geboren. Und das gilt mehr als alles, was wir über diese Epoche erlernen können. Alle Künste haben eine Entwicklung, die nicht nur aus dem einzelnen hervorgeht, sondern auch aus dem Willen der ganzen Generation, deren Erbe jeder einzelne angetreten hat. Wir können nicht einfach machen, was uns einfällt. Ein begabter Künstler kann nicht etwas Beliebiges schaffen. Wenn er nur seine eigene Begabung nützen würde, könnte er nicht existieren. Wir sind keine Herren unseres Schaffens, es wird uns auferlegt.“

Abschließend möchte ich noch anmerken, daß sich die Einleitung seines Werkes in einzelne Teilaspekte, wie sie sich in dem Interview herauskristallisiert haben, dann wieder aufhebt und zu einer Ganzheit zusammenfügt, wenn wir der Malerei die Energie zuerkennen, die ihr das eigentliche Leben – unabhängig von dem Gegenstand, den sie abbilden will – verleiht. Sie ist tiefergehend, als es mit den Sinnen zu erfassen ist. Ihr Ziel ist der Ausdruck eines Lebensgefühls. Sie erwächst in geheimnisvollen Zeichen, die von vitalen Kräften gespeist werden.  

Vítek Čapek (1954–1988), Kunsthistoriker, Künstler, Freund der Familie und Kurator der Benedikt-Rejt-Galerie Louny.